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Auf ein Telefonat mit Saliya Kahawatte

Saliya Kahawatte: „Mit Rationalität käme ich im Leben nicht weiter.“

Ich erinnere mich noch an meine Schulzeit, die begann bei mir in der ehemaligen DDR, als eine Karriere noch keine Karriere war. Eher eine Laufbahn, mit einem Arbeitsplatz, dem man eigentlich sein gesamtes Leben lang verpflichtet war. Entscheidungshoheiten dahingehend teilten sich die Lehrer und in wenigen Ausnahmen auch das ZK (Zentralkomitee der DDR).

Wie dem auch sei, alles war geradlinig. Eine Lehre wies den Weg, den Rest bog die Zeit zurecht. 10. Klasse, Heirat, Kinder, Trabbi… Heute biegt die Zeit zumeist nicht viel zurecht und eine Lehre weist nicht mehr unbedingt den Weg eines beruflichen Lebens. Wohl auch nicht das erste Studium oder das zweite. Sieht man an mir. Das haben auch die ersten jungen Leute erkannt und wiederum eigene Gegenmaßnahmen eingeleitet. Sie entwarfen die Turbo-Vita: ein Einweg-Studium, keinen Zeitverlust, auf Papier nur Glanz und Gloria.

Experten wiederum bemängeln diese Neuerscheinung der Lebensgeradlinigkeit: Da stehen die Abi-Kids auf der einen Seite und kämmen ihr Leben auf dem Papier, bis der Scheitel sitzt. Aber das Veto ringt auf der anderen Seite: Zu doll gestriegelt, behindert es den Blick nach links und rechts. Aber der ist wichtig.

Diese Gedankenspirale bringt mich wieder zurück in meine Studienzeit, als ich Saliya Kahawatte kennenlernte. Er ist fast blind. Aber eigentlich ist er auch Schriftsteller und mittlerweile erfolgreicher Unternehmensberater. Für außergewöhnliche Unternehmensfälle, versteht sich. Und er fand seinen Weg im wahrsten Sinne, auch über einen Umweg. Oder vielleicht zwei oder drei.

Und da stehe ich wieder einmal in der U-Bahn. Ich spekuliere, was für ein Leben meine Mitreisenden wohl hinter ihren Gesichtern verstecken, welche Umwege sie gehen. Antworten verschuldet rufe ich Saliya an, um herauszufinden, wohin ihn sein Weg gerade führt…

S. Kahawatte: Kahawatte.

Ich: Hallo Saliya. Ich erinnere mich gerade an unsere Studienzeit. Deine Wurzeln sind wie meine, nämlich die Hotellerie. Vermisst Du die Zeit im Restaurant? Tranchieren? Filetieren? Dekantieren?

S. Kahawatte: Nein, also vermissen tue ich es nicht, aber ich habe die Zeit genossen. Es ist ein Teil meines Lebens und auch ein Teil meines Charakters, auf dem fußt, was ich heute bin. Aber was ich heute tue, finde ich wesentlich interessanter. Es machte mich ja zu dem, was ich heute bin. Von daher ist es wichtig, vermissen tue ich es jedoch nicht. Aber ich kann es noch – ich habe es vor kurzem in Berlin erst wieder gemacht. (Er lacht verschmitzt.) Seezunge filetiert und Wein dekantiert.

Ich: Das sollte ich auch mal wieder probieren…

S. Kahawatte: Ja, es war toll. Ein Kunde aus einem Unternehmen, der mich aus der Hotellerie noch kennt, fragte mich neulich bei einem gemeinsamen Essen: ‚Kannst Du das noch?’ Und ich sage: ‚Natürlich!’ Er so: ‚Das glaube ich nicht.’ Ich entgegne: ‚Klar, das haben wir gleich. Lass mal bitte eine Seezunge sieden, ich mach das mal schnell.’ Und dann hab ich sie filetiert, die Kartoffeln und den Blattspinat vorgelegt. Fertig.

Ich: Was ja niemand wusste: Deine eigentliche Herausforderung war aber schon immer Deine Sehschwäche. Du hattest es geschafft, sie vor Deiner Umwelt zu verheimlichen, mit Hilfe von Verbündeten. Rückblickend: Wie wäre Dein Leben verlaufen, wenn Du nicht Herr über die Krankheit geworden wärest?

S. Kahawatte: Dann wäre ich in einer sozialen Einrichtung gelandet, die speziell für Blinde und hochgradig Sehbehinderte ausgerichtet ist. Dann hätte ich einen behindertengerechten Beruf gelernt, der mich am Ende in die Arbeitslosigkeit oder in die Frühverrentung geführt hätte.

Ich: Das hat Dich zu einem Orientierungsmeister gemacht. Du hast immer Deinen Weg gefunden – wörtlich und im übertragenen Sinne.

S. Kahawatte: Ja, aber ich musste auch Federn lassen. Ich hatte mich einst ganz verloren, beziehungsweise ganz aufgegeben. Nein, eigentlich war ich schon ganz weg. Ich musste wieder von Null auf Hundert gehen wie Phoenix aus der Asche.

Ich: Was war passiert?

S. Kahawatte: Das ganze Thema Sucht, Drogen, Suizid, Medikamentenmissbrauch – das war eine ziemlich bittere Erfahrung. Ich bin in die miesesten Untiefen meines Unterbewusstseins gegangen. Darin versunken. Und es war schwer, mich da wieder herauszuwinden – aus Entmündigung und geschlossener Psychiatrie. Das ist mehr als eine Hürde, wie man sie vielleicht aus dem Alltag kennt. Es war sehr kraft- und zeitraubend, auch die Energie, die ich investieren musste, um meine Behinderung zu verheimlichen. Dauerhaft hat es mich nicht glücklich gemacht.

Ich: Wie hast Du das geschafft?

S. Kahawatte: Teils mit Verbündeten, teils mit Choreographie, teils durch Abläufe, die ich mir überlegte: Wie kann ich das System „aufdröseln“, wie kann ich etwas anders machen oder auditiv an eine Situation herangehen, um weniger visuell zu arbeiten? Denn das konnte ich ja nicht. Es war schwierig, alles ständig neu zu überdenken, weil mein Sehvermögen immer weiter zurückging. Und ich musste alles kontinuierlich neu justieren. Wenn ich zum Beispiel einen Wein einschenkte – jeder normale Kellner weiß, wie viel er in das Glas einzuschenken hat – ich musste lernen, die richtige Füllhöhe zu erhören. Grundsätzlich investierte ich ungefähr das Dreifache an Zeit und Kraft, um gegenüber einem „normalen“ Menschen bestehen zu können.

Ich: Heute bist Du selbstständig. Profitieren Deine Kunden von Deinen Lebenserfahrungen?

S. Kahawatte: Die es wollen und die es erkennen, ja. Es gibt schon ein paar Prozent Leute, die sagen: ‚Der hat `ne Meise. Der kann ja noch nicht mal alleine zur Bushaltestelle gehen.’ Andere sagen: ‚Den wollen wir haben! Endlich mal jemand, der Out of the Box denkt und handelt, denn er lebt es uns ja auch vor.’ Das sind dann Konzerne und Firmen, die sich jemanden suchen, der neue Wege geht, weil sie auch neue Wege gehen wollen. Dabei bin ich Unternehmensberater sowie Management Trainer und Coach für Finanzdienstleister, Bürodienstleister, Supermarktketten und zum Beispiel Automobilfirmen.

Ich: Was bedeutet diese Selbstverwirklichung für Dich heute?

S. Kahawatte: Die ist ja immer ongoing, denn es geht ja noch weiter. Ich möchte mich weiterhin verwirklichen. 2016 strebe ich die Paralympics im Schwimmen an. Momentan trainiere ich zehnmal die Woche und bereite mich konsequent darauf vor. Dann bin ich deutscher Botschafter auf den Weltkongress der Blinden und Sehbehinderten unter der Schirmherrschaft von Angela Merkel, womit ich auch die Weltbühne betrete, um mich für Menschen mit Benachteiligung stark zu machen. Es wird noch ein zweites Buch erscheinen und es gibt Menschen, die daran interessiert sind, mein erstes Buch zu verfilmen.

Ich: Welche Fragen hat Dir das Leben bis heute nicht beantwortet?

S. Kahawatte: Die einzige Frage, die ich mir immer selber stelle, ist ‚Wann werde ich endlich erwachsen und werde ich das noch erleben?’. Das liegt wohl daran, dass ich oft gefragt werde: ‚Wie machst Du das alles?’ Ich antworte, dass man – wie soll es auch anders sein – Kraft braucht, etwas Intelligenz haben sollte und ein großes Stück Naivität besitzen muss. Mit Rationalität käme ich im Leben nicht weit.

Ich: Vielen Dank, Saliya, für das Gespräch.

Es sind Umwege, wie mir ein von mir geschätzter Dozent mal zwischen Tür und Angel zurief. Es sind die Umwege, die uns um Erfahrungen reicher machen und eigentlich Koordinaten sind, damit wir uns endlich mal finden. Außerdem bewahren sie uns vor Fehlern, die wir nicht so einfach ausmerzen können. Solche Fehler zeigen sich dann, wenn die doch so graziös anmutenden Pfade sich im Verlauf der Reise zu schlammigen oder gar steinigen verwandeln.

(Eine Anmerkung: Das Telefonat fand statt am 18. Juli 2011 um 13:30 Uhr)

3 Comments

  1. Melanie Baum Melanie Baum

    Hab das Buch schon gelesen und war tief beeindruckt. Toller Mann, manchmal würde ich mir auch mehr Kraft für mein Leben wünschen… aber ich arbeite dran.

    • flocke_hh flocke_hh

      Hallo Melanie, das stimmt! Es ist schon bewundernswert und vor allem auch ein Mutzuspruch, dass es immer irgendwie weitergeht und mit der richtigen Portion Hoffnung es auch besser werden kann.

      Liebe Grüße

  2. Astrid Exner Astrid Exner

    Einen schönen guten Abend!
    Ich habe heute Abend ihren Bericht in Galileo gesehen.Wenn ich den Bericht nicht selbst gesehen hätte, könnte ich es nicht glauben. Sie sind ein faszinierender Mann. Hut ab.Vielen Dank für diesen tollen Beitrag.Sie haben einen Fan mehr.
    DANKE
    viele liebe Grüsse und bleiben sie so wie sie sind.
    Astrid

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