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Auf ein Telefonat mit Florian Meimberg

Florian Meimberg: „In wahnhaften Gehirnen, in schizophrenen Geistern.“

Ich sitze im Zug nach Hamburg. Der ICE bringt mich (noch, es ist Ende Mai) zuverlässig von Frankfurt in den kühleren Norden. Wir fliegen mit
gefühlter Lichtgeschwindigkeit eine halbe Ewigkeit durch Tunnel.
Mir ist langweilig, also suche ich nach Anhaltspunkten, nach etwas lustiger Beschäftigung. Bäume zählen? Nicht lustig genug. ABC-Analyse des Mitreisendenschuhwerks? Mich interessieren nur eigene Schuhbilder auf #wirsounterwegs – alle anderen sind mir egal.

Mein Blick fällt auf die herumliegenden Tageszeitungen; sie heißen BILD, WELT; Süddeutsche, Frankfurter Allge… Das übliche Gedruckte halt. Während wir immer schneller werden, starren mich Bakterien an, lacht mich das Sex-Angebot der Hamburg-Mannheimer aus, ringt die Regierung mit ihrer geistigen Kernschmelze.

Übermäßige Themenflut. Schlecht zu verarbeiten. Ich schließe mal eben die Augen.

Wäre ich der Held einer Twittergeschichte – wo würde mich das aktuelle Zeitgeschehen in die TinyTales einreihen? Wie würde der vielbeschworene letzte Satz lauten, bevor ich Bakterien auf die Menschheit loslasse, ich das Schicksal einer Versicherung in ausweglose Bahnen lenke, ich ein Unglück des letzten kurz vor der Abschaltung stehenden Reaktors verantworte?

Da die Antwort wohl außerhalb meiner Vorstellungskraft liegt (ich bin ja nicht ihr kreativer Schöpfer), greife ich zum Telefon und wähle die Nummer von Florian Meimberg, seines Zeichens Vater und Grimme-Preisträger der TinyTales und begnadeter Regisseur von allerhand Werbung im Fernsehen.

Das Telefon wählt, tutet und tutet.

Meimberg: Guten Tag!

Ich: Florian, guten Tag! Gut, dass ich Dich erreiche! Hast Du die Zeitung heute schon gelesen? Meinst Du, die Welt ist gerade besser dran als in Deiner letzten Geschichte?

Meimberg wirkt überrascht: Heute noch nicht. Aber ich schiele mal hin und wieder auf Nachrichten. Jedenfalls hab ich in meiner letzten Geschichte erzählt, dass Graham Bell’s Frau ihn, den Erfinder des Telefons, für die Idee auslacht und dieser daraufhin etwas grimmig die Skizze zerreißt… Sähe die Welt besser aus? Ich weiß es nicht. Wie würde eine Welt ohne Telefon aussehen? Vielleicht viel besser als sie es heute tut. Vielleicht viel schlechter…

Ich werfe ein: Dann säße ich wohl nicht in diesem Zug und telefonierte mit Dir…

Meimberg: Das stimmt. Vielleicht gibt es aber auch ein Paralleluniversum, wo wir beide vielleicht gerade genau da sitzen, wo wir jetzt sitzen, nur nicht telefonieren. Weil es nichts gibt. Vielleicht würdest Du mich – weiß ich nicht – per Twitter anmorsen. Man weiß es nicht.

Ich: Wir hätten weniger Sorgen. Ist Dir einer Deiner Protagonisten – wahrscheinlich weniger Bell selbst, aber jemand anderes – schon im wahren Leben begegnet? Überhaupt schon einmal?

Meimberg: Wahrscheinlich sogar öfter als ich das weiß. Viele von meinen Geschichten spielen ja in tausenden Köpfen. Also in wahnhaften Gehirnen, in schizophrenen Geistern. Ganz viel setze ich ja auch in den Kopf eines Protagonisten ein und lasse es somit auch im Kopf des Lesers abspielen. Insofern – wer weiß – wenn man sich draußen so umschaut, wer weiß, was hinter den so harmlos aussehenden Gesichtern alles passiert. (man merkt: er schüttelt sich) Manchmal will man das wahrscheinlich gar nicht wissen wollen. Andererseits lasse ich mich genau von diesen Menschen inspirieren. Insofern: Ja! Denn ganz viele meiner Ideen – und das ist ja bei vielen Kreativen so – kommen aus einem Umfeld, das deins oder mein eigenes sein könnte. Erst neulich saß ich zwei Stunden in einem Münchner Biergarten, habe mir eine Maß bestellt und Leute beobachtet und mir dabei Ideen für TinyTales aufgeschrieben. Das ist nach wie vor das Inspirierenste für mich, das es gibt. Die Welt der anderen, sozusagen.

Ich: Warst Du denn dann schon einmal in einer dieser Welten verloren? So richtig ausweglos, in der Welt der anderen?

Meimberg: Ja, das passiert durchaus. Denn auch wenn ich sage, ich inspiriere mich durch meine Umwelt und mein Umfeld, dann reifen genauso gut Ideen, die aus meinem Leben und meiner Familie stammen, vielleicht auch aus traurigen Themen. Demnach gibt es TinyTales, die auch tragisch sind oder sehr, sehr traurig sind, die aus persönlichen Erfahrungen kommen, die ich dann nicht zu nah an mich heranlasse. (die Stimme wird leiser, sanfter) Nur – es sind immer noch Geschichten, nur Fiction. Auch wenn der Inspirationsfunke von einem sehr persönlichen Eindruck her rührt.

Ich: Wie viel Sehnsucht baust Du denn dann auf, bevor Du Dich in die nächste Welt versetzt?

Meimberg: Vor über zwei Jahren hab ich die TinyTales rausgeballert. Da hab ich einfach geschrieben, geschrieben, geschrieben… weil mich die Idee selber so angefeuert hat und ich merkte: DAS IST GEIL! (man merkt: seine Stimme geht steil) Habe gemerkt, irgendwie hat das was. Die Followerzahlen sind dann natürlich schnell gestiegen. Das hat mich noch mehr angefeuert. Mittlerweile… warte, das muss ich gerade noch erklären: Die TinyTales kommen ja im Oktober als Buch beim Fischer-Verlag raus… Mittlerweile habe ich gerade im Zuge der Buchvorbereitungen die Veröffentlichungen etwas zurückgefahren, auf kleine Flamme sozusagen. Nichts desto trotz, respektive Deiner Frage – ich arbeite stetig und immer wieder in meinem kleinen „Steinbruch“, einem Word-Dokument – wie ein Kollege im Verlag es nennt – wo alle meine Ideen als Stichpunkte oder als halbfertige TinyTales oder als 141-Buchstaben-TinyTales, also alle, die noch nicht veröffentlich wurden, gesammelt sind. Und wie in einem Steinbruch klöppel ich da die ganze Zeit an neuen Geschichten herum und ändere, was nicht dazugehört. Und das ist so mein Master-Dokument, aus dem ich schöpfe und neue Geschichten über Twitter an meine Follower schicke.

Ich: Und während Du da klöppelst… Angenommen, Du hast die Macht, mit Deinen TinyTales die Welt zu verändern. Was würdest Du tun?

Meimberg lacht: Das darf ich noch nicht verraten. Ich brauche noch ungefähr ein paar Tausend Follower, dann wird mein Plan greifen. Das werdet Ihr alle schon merken. Aber ja, je mehr Follower man hat, desto verlockender wird so ein Gedanke natürlich.

Ich: Als ich meine erste TinyTale gleich zehn Mal hintereinander verschlang (wohl aus Gründe der intellektuellen Unreife), rockte The Beta Band mit Dry The Rain meinen Gehörgang. Ich will Dir mal meinen eigenen Soundtrack basteln. Vorstellung, wer unbedingt darauf vertreten sein müsste?

Meimberg: Wow, spannende Frage. Auch ganz schwer zu beantworten. Ich versuche so vielfältig wie möglich zu sein in den TinyTales, was die Genre angeht und die Figuren und so. (man merkt: er zögert) Wenn ich zum Beispiel schreibe… – lustigerweise – schreiben kann ich sehr gut, wenn ich lauten Punk Rock höre. Also NOFX oder Bad Religion. Wenn ich ganz konzentriert an einer Geschichte arbeite. Leute, denen ich davon erzähle, sagen immer „Bist Du bescheuert!“ und halten mich für wahnsinnig. Die Geschichten jedoch selbst tendieren mehr zur Vielseitigkeit. Ich glaube, es müsste Punk Rock genauso darin vorkommen wie Klassik mit epischen Streichern. Oder auch dreckiger HipHop. Ich glaube, dass der Soundtrack zu den TinyTales ein sehr, sehr vielschichtiger sein müsste, der auch mal die musikalischen Kräfte aufeinanderprallen lässt. Wo beide Seiten sich sagen: „Was willst Du denn hier?“ Das würde spannend zu hören sein.

Ich: Das wird es sein. Florian, vielen Dank für das Telefonat! Wünsche Dir noch eine erfolgreiche Mußestunde.

Nicht lange nach dem Telefonat greife ich zu Zettel und Stift und „klöppel“ am ersten TinyTales-Soundtrack…

  1. Grinderman – Man in the Moon
  2. …And You Will Know Us By the Trail Of Dead – Summer Of All Dead Souls
  3. Arctic Monkey – If you were there, beware
  4. Korn – Blind
  5. Frédéric Chopin – Fantasie-Impromptu Cis-Moll Op. 66
  6. Smashing Pumpkins – The Everlasting Gaze
  7. The Cure – The Hungry Ghost
  8. A Perfect Circle – Judith
  9. Rocko Schamoni – Der Mond
  10. Tool – Stinkfist
  11. Wolfmother – Mind’s Eye
  12. Rage Against The Machine – Bullet in your Head
  13. Uncle Ho – Show Them What You Are Made Of
  14. Nick Cave – Little Creatures
  15. Tom Waits – Take it with me

Währenddessen hat sich die Lichtgeschwindigkeit zur Kaffeefahrt verringert. Die Schaffnerpiepsstimme schnarrte etwas von „Knderrn `f d´ Trazze“. Unter uns spazieren die Rapsfelder vorbei, unterbrochen vom Gedanken, vielleicht nachher noch dem Helden der nächsten TinyTale zu begegnen. Wie schizophren kann das wohl werden?

(Anmerkung: Das Telefonat fand statt am 31. Mai 2011 um 15:00 Uhr)

 

 

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